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Stirbt man an Borreliose

Dr. Volker Fingerle ist am Bundesweiten Referenzzentrum für Borrelien tätig, welches seinen Sitz am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit hat. Er gibt Entwarnung: Die durchschnittliche Anzahl der Borreliose-Erkrankungen ist über die vergangenen Jahre hinweg weitgehend konstant geblieben. Diese könnten jedoch variieren, abhängig davon, wie zuträglich die klimatischen Bedingungen für die Zecken im jeweiligen Moment sind. Er erläutert: "In bestimmten Jahren steigt die Zahl der Fälle an, gefolgt von einem für die Zecken ungünstigen Jahr, und die Zahlen gehen daraufhin wieder zurück."

Ein Mensch mit Zeckenzange gilt als der ungeeignete Wirt

Für die Infektionen beim Menschen sind in Deutschland insgesamt fünf verschiedene Varianten der spiralförmigen Bakterien ursächlich. Allerdings sind diese Erreger nicht in jeder einzelnen Zecke vorhanden. "Wir nehmen an, dass ungefähr ein Prozent der Zeckenlarven, zehn Prozent der Nymphen und ein Fünftel der adulten Zecken mit Borrelien infiziert sind", so Fingerle. Demzufolge kommen die meisten Zecken erst im Laufe ihres Lebenszyklus mit den Bakterien in Kontakt, nämlich indem sie Blut von einem bereits infizierten Tier aufnehmen.

Die Borrelien nisten sich sodann im Darm der Zecke ein und verharren dort, bis diese ein neues Tier sticht. Geschieht dies, so benötigen die Bakterien, schätzungsweise über einen Zeitraum von mehreren Stunden, um vom Zeckendarm in den Organismus des neuen Wirtes überzutreten. Laut Fingerle sind Menschen jedoch keine optimale Umgebung für die Mikroorganismen. Vielmehr werden Wirte präferiert, in denen sich die Bakterien in aller Ruhe ausbreiten können, von wo aus sie die Möglichkeit erhalten, beim nächsten Zeckenstich erneut in eines der Spinnentiere zurückzugelangen.

"Der Mensch ist vermutlich allein aufgrund seiner hygienischen Verhaltensweisen eine Sackgasse für die Zecke, denn er entfernt die Zecke umgehend. Welches Wirbeltier kann sich Zecken derart effizient beseitigen wie der Mensch, welches hat Spiegel und Zeckenzange zur Verfügung?", fragt Fingerle.

Die Anzeichen einer Borreliose sind unspezifisch

Peter Kraiczy, der die Bakterien mit seiner Forschungsgruppe am Universitätsklinikum in Frankfurt am Main untersucht, führt aus, dass Mäuse, Rehe oder zahlreiche Vogelarten eigentlich die bevorzugten Wirte der Borrelien sind. Hat sich die Zecke aber einen Menschen als Zielorganismus ausgewählt, so bleibt auch den Borrelien keine andere Option. Auf ihrem Weg vom Zeckendarm zu deren Mundwerkzeugen und weiter in den menschlichen Organismus vollziehen diese Bakterien eine Gestaltwandlung. Sie passen die spezifischen Merkmale ihrer Oberfläche, die sogenannten Antigene, an den Wirt an. Ist der Mensch das Ziel, heften die Bakterien menschliche Proteine an ihre Zellhülle an. Diese wirken dann wie ein Tarnmantel. "So besitzen Borrelien die Fähigkeit, unserem Immunsystem zu entgehen, da sie nicht als fremd wahrgenommen werden, sondern als körpereigen erscheinen", erklärt Kraiczy.

Die infizierten Personen nehmen den Eindringling zunächst oft nicht wahr. Da sich Borrelien lediglich einmal pro 24 Stunden teilen, erfolgt ihre Vermehrung nur sehr schleppend. Von der Einstichstelle aus beabsichtigen sie, die Blutgefäße zu verlassen, um sich in entfernteren Geweberegionen vor der Immunabwehr verbergen zu können. Beginnen sie diese Migration unter der Haut, so kommt es zur bekannten Wanderröte, deren Fachbezeichnung "Erythema migrans" ist. Kraiczy berichtet, dass dies aber nur bei 40 bis 60 Prozent aller Betroffenen auftritt. Aufgrund der gemächlichen Ausbreitungsgeschwindigkeit der Bakterien zeigt sich diese Wanderröte erst einige Tage nach dem Zeckenstich, mitunter verstreicht sogar eine komplette Woche.

Sollte die Wanderröte unterbleiben und der Zeckenstich unentdeckt bleiben, so besteht die Möglichkeit, dass Patienten eine Infektion übersehen. "Bei über 95 Prozent der Patienten zeigen sich kaum Krankheitszeichen, das heißt, entweder gar keine oder eine eher milde Symptomatik", präzisiert Peter Kraiczy und führt aus: "Unter milder Krankheitssymptomatik verstehe ich zum Beispiel Fieber, Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen oder allgemeines Unwohlsein." Derartige Symptome treten typischerweise immer auf, sobald das Immunsystem aktiviert wird. Mediziner bezeichnen sie daher als unspezifisch. "Viele der Gestochenen interpretieren dies eher als einen grippalen Infekt", merkt Kraiczy an.

Gravierende Paresen als Folge der Borreliose

In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle eliminiert das Immunsystem die eingedrungenen Erreger eigenständig. Es produziert neutralisierende Antikörper und vernichtet die Borrelien somit, ohne dass die Unterstützung von Antibiotika erforderlich wäre und "ohne, dass zu einem späteren Zeitpunkt noch eine Borreliose im fortgeschrittenen Stadium zum Vorschein kommt", wie Kraiczy bestätigt. Allerdings: In seltenen Konstellationen, wie bei Silvia Heinze geschehen, dringen die Borrelien in nervöses Gewebe und von dort in die sogenannte Zerebrospinalflüssigkeit, das Nervenwasser, ein. Und sollten sie zu diesem Zeitpunkt von medizinischem Fachpersonal noch immer nicht identifiziert werden, so können sie gravierendste Schädigungen verursachen.

Professor Sebastian Rauer ist leitender Oberarzt an der Neurologischen und Neurophysiologischen Universitätsklinik Freiburg. Unter seiner Ägide wurde die S3-Leitlinie "Neuroborreliose" konzipiert, die Neurologen dabei unterstützen soll, bei klinischen Erscheinungsformen, wie sie bei Silvia Heinze auftraten, die korrekte Diagnose zu stellen und die Erkrankung adäquat zu behandeln. In seiner klinischen Praxis hat er bereits mehrere Patienten betreut, die ähnlich schwere Symptome aufwiesen und deren Borreliose zuvor nicht diagnostiziert worden war.

So war da beispielsweise eine Frau, "die seit ungefähr eineinhalb Jahren eine anfängliche Gehstörung, eine spastische Parese der unteren Gliedmaßen hatte und deren Gehfähigkeit sich zunehmend verschlechterte." Irgendwann entwickelte die Patientin eine Blasenfunktionsstörung, woraufhin die Kollegen eine sogenannte primär chronische Multiple Sklerose annahmen, welche mittels Chemotherapie bekämpft werden sollte. Das Nervenwasser war allerdings niemals einer Untersuchung unterzogen worden. "Bei dieser Patientin haben wir im Nervenwasser akute entzündliche Veränderungen festgestellt, die unzweifelhaft auf eine Borreliose hindeuteten", berichtet Rauer.

Antibiotika wirken zuverlässig - Beschwerden können dennoch bleiben

Solche Ausprägungen einer späten Infektion sind laut ihm aber äußerst rar. "Die häufigste Manifestation der Neuroborreliose ist die ein- oder beidseitige Gesichtslähmung - die Fazialisparese. Plötzlich kann man einen Mundwinkel nicht mehr korrekt bewegen oder das Auge nicht mehr vollständig schließen", erklärt Rauer. "Oft ist jedoch auch ein Rückenmarksnerv betroffen. Dann erleidet man nachts diese heftigen, einer Gürtelrose ähnlichen Schmerzen, die auf herkömmliche Schmerzmittel keinerlei Reaktion mehr zeigen. Die Betroffenen sind dann oft wirklich ratlos."

An diesem Punkt hat der Neurologe eine grundsätzlich positive Botschaft für alle Betroffenen: "Die Lyme-Borreliose kann in jedem fortgeschrittenen Stadium mittels einer Antibiotika-Behandlung erfolgreich gestoppt werden." Oft verbreitete Schreckensmeldungen von Bakterien, die sich der Therapie entziehen und zu späteren Zeitpunkten stets wiederkehren können, sind durch wissenschaftliche Studien nicht belegbar. Bis dato hätten die Bakterien keinerlei Resistenzen gegenüber den angewandten Antibiotika entwickelt; sie seien stets mittels der Medikamente zuverlässig eliminiert worden.

Dennoch: Symptome können fortbestehen. "Dass es tatsächlich mitunter chronische Beschwerden gibt, resultiert daraus, dass hier unvollständige Heilungsprozesse vorliegen", sagt Rauer. Dies bedeutet: "Ist Nervengewebe geschädigt worden, so regeneriert es sich teilweise nur unvollständig. Und dann können anhaltende Beschwerden auftreten."

Von einer prophylaktischen Verabreichung von Antibiotika wird dezidiert abgeraten

Dass solche Fälle allerdings die absolute Ausnahme darstellen, belegt eine Studie von Wilking et al. aus dem Jahr 2015. Die Wissenschaftler hatten in Blutproben repräsentativ ausgewählter Menschen aus Deutschland nach Antikörpern gegen die Borrelien gefahndet. Ungefähr zehn Prozent der Probanden waren demnach seropositiv, was bedeutet, dass sie Antikörper aufwiesen, die auf eine bereits durchgemachte Infektion mit den Bakterien schließen ließen. Je älter eine untersuchte Person war, desto wahrscheinlicher war sie anscheinend bereits einmal in ihrem Leben mit den Bakterien infiziert worden. In der Gruppe der 70- bis 79-Jährigen erreichte die Seroprävalenz sogar einen Wert von zwanzig Prozent. Wissenschaftler wie Volker Fingerle, Sebastian Rauer und Peter Kraiczy schätzen, dass die meisten von ihnen sich vermutlich nicht an die Infektion erinnern können, weil sie überhaupt keine Symptome zeigten.

Da Zeckenstiche so häufig vorkommen, erachten Mediziner die vorsorgliche Verabreichung von Antibiotika nach einem bemerkten Stich als nicht ratsam. Insbesondere Waldarbeiter, Landwirte oder andere Personen, die sich oft in der Natur aufhalten, müssten dann außerordentlich häufig mit den Medikamenten behandelt werden, die bekanntlich nicht gänzlich frei von unerwünschten Begleiterscheinungen sind.

Vakzin gegen Borreliose befindet sich in klinischer Erprobung

Eine optimierte Prävention könnte zukünftig ein Impfstoff der österreichischen Biotechnologiefirma Valneva ermöglichen. Er induziert bei geimpften Personen die Bildung von Antikörpern gegen die Oberflächenproteine der Borrelien. Gelangen die Bakterien anschließend in den Körper der Immunisierten, können sie zeitnah attackiert werden. Das Immunsystem hätte somit ein zusätzliches Instrument gegen den Tarnumhang.

Eine erste klinische Phase-II-Studie hat der Impfstoffkandidat VAL-15 bereits erfolgreich gemeistert. Derzeit wird er in einer weiteren Studie erprobt, eine klinische Phase III zur Genehmigung befindet sich bereits in Vorbereitung. Das Unternehmen ist hierfür eine Partnerschaft mit dem Pharmakonzern Pfizer eingegangen, welcher bereits dem COVID-19-Vakzin von Biontech maßgeblich zum Durchbruch verholfen hat. Verläuft alles planmäßig, könnte laut einer Sprecherin ab dem Jahr zweitausendfünfundzwanzig ein Impfstoff gegen die Borreliose auf dem Markt erhältlich sein.

Für Liebhaber ausgedehnter Exkursionen durch die Natur hat Neurologe Sebastian Rauer jedoch noch einen weiteren, essenziellen Hinweis: Die Immunisierung gegen die sogenannte Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) sei von größter Bedeutung. Denn die FSME, eine viral bedingte Hirnhautentzündung, wird ebenfalls durch Zecken vektoriert und kann bei Ausbruch eine weitaus höhere Gefährdung als eine Borreliose darstellen, da sie zu gravierendsten Paresen sowie sogar zu Visusverlust oder letalem Ausgang führen kann. Die entsprechende Schutzimpfung bietet verlässlichen Schutz und ist bei jedem Hausarzt zugänglich.

Quellen