Risse im Putz bei Neubauten
Ab welchem Zeitpunkt wird ein Riss als Mangel klassifiziert?
Die Beschaffenheit und die Ursachen von Rissen können sehr unterschiedlich sein, und ihre Sichtbarkeit hängt oft von ihrer jeweiligen Breite ab. Darüber hinaus können sie nur temporärer Natur sein. Ob innerhalb oder außerhalb der Gewährleistungsfrist auftretend, können sie sowohl spezifisch für die Bauart als auch für das verwendete Baumaterial sein. Dies allein verdeutlicht, dass es nicht nur einen einzigen Riss gibt und folglich unterschiedliche Beurteilungen erforderlich sind. Insbesondere kann eine technische Analyse ergeben, dass ein Riss „keinen Beanstandungsgrund darstellt', während eine juristische Einschätzung eindeutig einen Mangel bestätigt.
Technische Einschätzung von Rissbildungen
Die Grundlage jeglicher technischer Beurteilung bildet die Rissdiagnostik, welche die Ermittlung von Rissbreite und -tiefe, Rissverlauf und -verteilung sowie die ein-, zwei- oder dreidimensionale Verschiebung der Rissflanken umfasst. Nach dieser exakten Vermessung des Risses muss geklärt werden, ob zukünftig Bewegungen an den Risskanten zu erwarten sind - einfacher ausgedrückt, ob ein Riss noch „arbeitet'? Diese Frage ist, neben der technischen Bewertung des Risses selbst, entscheidend für die Wahl des Sanierungssystems (ob der Riss repariert oder lediglich überdeckt werden soll).
Das präzise Messen von Rissbreiten ist nur dann sinnvoll, wenn die ermittelten Werte (Ist-Zustand) mit den zulässigen Rissbreiten (Soll-Zustand) abgeglichen werden. Dies gestaltet sich als relativ herausfordernd, da in einschlägigen Normen und Richtlinien keine absoluten Grenzwerte festgelegt sind. Selbst wenn Werte genannt werden, lassen sich diese nicht pauschal auf alle Bauteile und Materialien übertragen. So wird in der DIN V 18550 (für Putze) ausgeführt, dass Haarrisse bis zu einem gewissen Umfang keine Beanstandung erfordern. Als Haarrisse werden hierbei Risse mit einer maximalen Breite von 0,2 Millimetern definiert. Dieser Empfehlung schließt sich auch die DIN EN 13914 Teil 1 an, die festhält, dass Haarrissbreiten bis zu 0,2 mm bei wasserabweisenden und wasserhemmenden Putzen die Funktionalität nicht beeinträchtigen. In Anlehnung daran legen die Normen DIN EN 13499 und DIN EN 13500 (für Wärmedämmverbundsysteme) für Putzbeschichtungen auf Mineralfaserdämmung eine zulässige Rissbreite von 0,2 mm und für Putzbeschichtungen auf Polystyroldämmung von 0,3 mm fest.
In der praktischen Anwendung wird dies dahingehend interpretiert, dass die Regelwerke eine Rissbildung bis zu einer Breite von 0,2 mm „legalisieren', was bedeutet, dass solche Risse nicht beanstandet werden können. Aus technischer Perspektive stellt sich umgehend die Frage, ob Risse, die kleiner als 0,2 mm sind, unmittelbar einen (technischen) Mangel darstellen - zumal die DIN V 18550 ergänzt, dass breitere Risse keineswegs einen Mangel darstellen, sofern sie unter üblichen Gebrauchsbedingungen nicht sichtbar sind und die technische Integrität des Putzes nicht beeinträchtigt wird. Hieraus ergibt sich die interessante Fragestellung: Bei welchen Rissbreiten ist die technische Substanz eines Putzes beeinträchtigt? Anders formuliert: Wie lange bleibt die Funktionalität eines rissigen Putzes gewährleistet?
Die primäre (technische) Funktion einer Putzbeschichtung liegt im Schutz der Fassade vor Witterungseinflüssen. Selbst ein schmaler Riss von nur 0,2 mm kann bei einem starken Regenschauer innerhalb einer Stunde bis zu zwanzig Liter Wasser in den Untergrund eindringen lassen. Aus diesem Grund sollte die Beurteilung eines Risses nicht allein auf dessen Breite und Tiefe gestützt werden, sondern auch gebäudespezifische Einflussfaktoren berücksichtigen. Hierzu zählen insbesondere die Schlagregenbelastung des Gebäudes sowie die übermäßige Belastung durch Spritzwasser. Relevante Angaben hierzu finden sich in der DIN 4108 Teil 3 (Beanspruchungsgruppen) und sollten in der Praxis, insbesondere bei Ausschreibungen, eine stärkere Berücksichtigung erfahren.
Zusätzlich ist zu bedenken, dass es keine einheitliche Putzbeschichtung gibt. Neben Mineral-, Silikat-, Siliconharz- und Kunstharzputzen werden einige dieser Produkte zusätzlich mit einem ein- oder zweimaligen Anstrich versehen, der wiederum aus diversen Bindemitteln und somit unterschiedlichen Eigenschaften bestehen kann. Es ist daher ebenso wenig korrekt, einen wasserabweisenden Kunstharzputz pauschal als besonders kritisch (aufgrund von Diffusion) oder besonders vorteilhaft (wegen seiner Elastizität) einzustufen. Das Gleiche gilt für die übrigen Putzbeschichtungen. Jede Beurteilung muss stets als Einzelfall betrachtet und bewertet werden. Nicht zuletzt spielt die Beschaffenheit des Untergrunds, auf den der Putz aufgebracht wird, eine wesentliche Rolle. Ein Wärmedämmverbundsystem (WDVS) muss fundamental anders eingeschätzt werden als ein Leichtputz auf hochwärmedämmendem Mauerwerk, ein Sanierputz auf einem Mischmauerwerk oder ein Wärmedämmputz im Bereich von Gefachen.
Dies illustriert, dass eine allgemeingültige technische Bewertung von Rissen schlichtweg nicht möglich ist und dass neben der Rissbreite und -tiefe auch die bauphysikalischen Kennwerte der Putzbeschichtungen und ihrer jeweiligen Untergründe in die Beurteilung einbezogen werden müssen. Selbst identische Rissbreiten oder -tiefen erfordern aufgrund der abweichenden Zusammensetzung der Putze eine differente Bewertung. Gleiche Rissbreiten sind nicht zwangsläufig Indikatoren für identische Rissstärken. Folglich kann die Frage nach einem technischen Mangel entweder gar nicht oder nur bedingt mit den in Normen und Regelwerken genannten Rissbreiten oder -tiefen beantwortet werden.
Visuelle Beurteilung von Rissen
Die optische Beurteilung von Rissen gestaltet sich schwierig, da sie nicht auf objektiv messbaren Kriterien wie präzisen Messergebnissen basiert. Dies macht jede visuelle Einschätzung subjektiv und somit angreifbar. So kann beispielsweise die äußere Erscheinung einer fertiggestellten Putzoberfläche für den Maler oder Stuckateur als normal oder alltäglich erscheinen, während der Bauherr exakt dieselbe Putzfläche als mangelhaft zurückweisen könnte. Häufig entbrennt sodann die Debatte darüber, ob die aufgetretenen Risse noch im zulässigen Toleranzbereich liegen, marktüblich und somit akzeptabel sind oder ob sie möglicherweise sogar hätten verhindert werden können. Letztlich geht es hierbei um die Angemessenheit der Risserkennung und -bewertung. Dennoch steht bei der optischen Beurteilung niemals allein das Erscheinungsbild der Risse im Fokus. Andere Faktoren können eine signifikante Rolle spielen. Dazu zählen unter anderem:
Vorhandensein von mikrobiellem Befall und/oder Verschmutzungen
Farbnuancen und die Beschaffenheit der Oberfläche
Positionierung und die Wahrnehmung der rissigen Fläche und
die zeitliche Relevanz des Auftretens der Risse
In zahlreichen Publikationen wird die Ansicht vertreten, dass Risse noch als akzeptabel gelten und keiner Beanstandung bedürfen, wenn sie beispielsweise auf geglätteten oder glatten Oberflächen eine Breite von bis zu 0,1 mm aufweisen oder bei Strukturputzen mit einem Größtkorn über 3 mm eine Breite von bis zu 0,2 mm erreichen. Diese Aussage kann jedoch nur bedingt als allgemeingültig betrachtet werden. Wenn das Gebäude einer erheblichen Belastung durch mikrobiellen Befall (Algen, Pilze) ausgesetzt ist und sich an einem exponierten Standort mit hoher Niederschlagsmenge befindet, werden auch derartige Risse nach relativ kurzer Zeit gut sichtbar und subjektiv größer erscheinen. Durch den mikrobiellen Befall wirken die Risse dunkler und an den Rissflanken breiter, als sie es tatsächlich sind.
Bei Putzen mit hydrophilen Eigenschaften kommt hinzu, dass sich im Rissbereich die Wasseraufnahme noch weiter erhöht. Putzstrukturen, die dazu neigen, Wasser nach Niederschlägen zu speichern - wie beispielsweise horizontal verriebene Rillenputze oder klassische Edelkratzputze - verstärken dieses Phänomen noch. Folglich spielt bei der visuellen Bewertung auch die Oberflächenbeschaffenheit des Putzes und seine Struktur eine wichtige Rolle. Glatte Putzoberflächen sind hinsichtlich einer potenziellen Rissbildung und deren Wahrnehmung deutlich anfälliger als raue oder stark strukturierte Putzoberflächen, auf denen sich Risse kaum abzeichnen und unauffällig um das Strukturkorn herum verlaufen. Auch der Farbton der Putzoberfläche trägt zur Sichtbarkeit bei. Auf weißen und hellen Oberflächen werden Risse stets schneller und deutlicher erkennbar sein als auf erdigen und dunkleren Farbtönen.
Im Zentrum der optischen Begutachtung von Rissen stehen üblicherweise zum einen die Verhältnismäßigkeit der Rissidentifizierung und -bewertung und zum anderen die sogenannten gebrauchsüblichen Bedingungen. Beide Bewertungsaspekte werden maßgeblich beeinflusst durch:
den Standort der Risse
die Anzahl der aufgetretenen Risse
den Anteil der rissbehafteten Fläche an der Gesamtoberfläche
die unmittelbare und gute Erkennbarkeit der Risse
ob die gerissene Fläche eine besondere gestalterische oder repräsentative Bedeutung hat
den Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens der Risse, bzw.
ob die Risse möglicherweise nur vorübergehend auftreten und unter welchen Umständen dies der Fall ist
Die visuelle Beurteilung wird unter anderem maßgeblich durch den Betrachtungsabstand, die Blickrichtung, die Lichtverhältnisse oder die Beleuchtung, gegebenenfalls die Witterungsbedingungen sowie die Notwendigkeit von Hilfsmitteln und spezifischen Messmethoden beeinflusst.
In der Praxis ist es üblich, dass Risse als eine unbedeutende visuelle oder ästhetische Beeinträchtigung der Oberfläche angesehen werden, wenn sie aus einer Entfernung von etwa drei Metern kaum oder gar nicht mehr wahrnehmbar sind. Diese Aussage wird als unverbindlicher Ratschlag betrachtet, da die bereits erwähnten Faktoren wie Oberflächenstruktur, Farbgebung, Materialart, Lage und Beanspruchung der Oberfläche zwingend berücksichtigt werden müssen. Risse sollten stets nur aus der Perspektive visuell beurteilt werden, aus der sie auch erkennbar sind (gemäß üblicher Nutzung und Beanspruchung). Daher erscheint es unangebracht, wenn ein Riss beispielsweise im Übergangsbereich von Fassade und Dach durch das Aufstellen eines Gerüstes sichtbar wird, obwohl der Riss bei einer üblichen Betrachtung nicht hätte entdeckt werden können. Ebenso unzulässig ist es, zur Auffindung eines Risses benachbarte Dachflächen oder Grundstücke zu betreten oder eine Hebebühne, eine Leiter oder Hilfsmittel wie ein Fernglas oder eine Lupe zu verwenden. Unverhältnismäßig ist es zudem, die Putzoberfläche mit Wasser zu befeuchten, um einen Riss sichtbar zu machen. Als grenzwertig hingegen gilt es, wenn Risse nur für wenige Stunden am Tag (etwa im Streiflicht) oder nur für einige Monate im Jahr erkennbar sind.
Juristische Einschätzung von Rissen
Juristen zeigen sich bei der rechtlichen Beurteilung von Rissen in der Regel weitaus weniger kreativ als die meisten Gutachter oder Handwerker. Sie orientieren sich primär an den Paragrafen § 434 und § 633 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im Hinblick auf den Mangelbegriff und prüfen dabei, was vertraglich vereinbart wurde. Eine Abweichung von den vertraglichen Absprachen kann dennoch als mangelfrei gelten, wenn das Werk für den vertraglich vorgesehenen oder üblichen Verwendungszweck geeignet ist und seine Beschaffenheit derjenigen entspricht, die bei anderen Werken gleicher Art üblich ist und die der Auftraggeber erwarten darf. Das Vorliegen eines Mangels (wie einem Riss) impliziert nicht zwangsläufig einen daraus resultierenden Schaden. Umgekehrt muss ein aufgetretener Schaden (ein Riss) nicht zwingend einen Mangel darstellen. Insbesondere in Bezug auf technische Mängel (wie Wasseraufnahme) oder optische Mängel (wie mikrobiellen Befall) verwenden Juristen gerne interrogative Formulierungen wie „Können Sie ausschließen, dass …?', um für ihren Mandanten eine Antwort zu erzwingen, die auf ein Restrisiko hindeutet und somit die Annahme eines Mangels rechtfertigt. Letztendlich gilt gerade bei Rissen das Motto: „Bezahlt wird mit Mängeln
Text und Bilder von Frank Frössel, Sachverständiger für Bautenschutz und Bausanierung,
technischer Leiter bei Sakret